Haft steht Antragstellung für Gewährung von Sozialleistungen nicht entgegen

SG Fulda, Beschluss vom 30.03.2011 – S 3 R 85/11 ER

1) Bei Entscheidungen über die Bewilligung einer Leistung zur Teilhabe in Form einer stationären Drogentherapie kann die Bedeutung der persönlichen Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen, wenn eine vorzeitige Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1 StGB in Betracht kommt. 2) § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI steht einer Leistungsgewährung während der Haft, nicht aber einer Antragstellung aus der Haft für einen Leistungsgewährung im Anschluss an die Haft entgegen. (entgegen HessLSG, Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER)

Leitsätze des Gerichts

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragssteller eine Zusage für eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogentherapie zu erteilen.

2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug bewilligt.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung einer Kostenzusage für eine Drogentherapie.

Der Antragsteller verbüßt zur Zeit eine vom Amtsgericht X-Stadt im August 2009 ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, weiter sind Freiheitsstrafen aufgrund von Bewährungswiderrufen notiert, von denen jeweils bereits zwei Drittel in der JVA A-Stadt (im Folgenden JVA) vollstreckt worden sind. Der Endstrafentermin bei Verbüßung sämtlicher Strafen wäre der 21.04.2013. Ab 20.01.2011 kommt gem. § 57 Abs. 1 StGB eine vorzeitige Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung in Betracht.

Das Amtsgericht X-Stadt hat bereits im Strafurteil seine Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer stationären Drogentherapie nach § 35 BtMG erteilt, weil die (letzte) Verurteilung auf die Drogenabhängigkeit des Antragstellers zurückzuführen sei.

Der Antragsteller bemüht sich seit Haftantritt um einen Therapieplatz. Bereits im September 2009 erhielt er eine Zusage für einen Therapieplatz von der Fachklinik Y. in Z.

Eine Zurückstellung der Strafverfolgung gem. § 35 BtMG wurde durch die Staatsanwaltschaft X-Stadt mit Bescheid vom 23.04.2010 abgelehnt, weil neben der letzten durch das Amtsgericht X-Stadt ausgesprochenen Verurteilung weitere Strafen bzw. Strafarreste zu verbüßen seien, welche nicht zurückstellungsfähig seien.

In der Haft hat der Antragsteller einen Drogenrückfallpräventionskurs und einen sozialen Trainingskurs erfolgreich absolviert.

Im Hinblick auf eine mögliche vorzeitige Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1 StGB ab dem 20.01.2011, beantragte der Antragsteller am 10.11.2010 eine Kostenzusage für eine stationäre Drogentherapie bei der der Antragsgegnerin.

Mit Bescheid vom 22.11.2010 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag unter Hinweis auf § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI ab. Eine Leistungsgewährung käme für Versicherte, die sich im Vollzug einer Freiheitsstrafe befänden, nicht in Betracht.

Am 25.11.2010 hat der Antragsteller gegen den Bescheid vom 26.07.2010 Widerspruch erhoben. Den Widerspruch hat der Leiter der JVA mit Schreiben vom 29.11.2010 an die Antragsgegnerin weitergeleitet. Darin heißt es u.a.:

(…) in Anlage übersende ich Ihnen den Widerspruch des Obengenannten, der von der Suchtberatung unterstützt wird.

Aus hiesiger Sicht ist eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vor dem Hintergrund einer Delinquenzvermeidung, einer Suchtmittelfreiheit sowie der dringend erforderlichen sozialen und beruflichen Integration nachdrücklich angezeigt und wird ausdrücklich empfohlen.

Herr A. beabsichtigt die beantragte stationäre Maßnahme nicht während seiner Haftzeit, sondern im Anschluss daran anzutreten, so dass der von Ihnen ausgeführte § 12 Abs. 1 Nr. 5 des SGB VI für ihn nicht zutrifft.

Herr A. hat in der Vergangenheit noch keine suchttherapeutische Maßnahme absolviert und wird, sobald eine Kostenzusage erteilt wurde, die Strafaussetzung gem. § 57 StGB beantragen, um eine solche antreten zu können. (…)

Es wird gebeten, den Antrag Herrn A. auf Kostenübernahme unter Berücksichtigung des dargelegten Sachstandes schnellstmöglich erneut zu prüfen.

Um weitere Ablehnungsbescheide in dieser Form vorzubeugen, möchten wir Sie zudem bitten, die Vorgehensweise allgemein zu überprüfen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.01.2011 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Beim Antragsteller seien zwar die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gem. § 11 SGB VI erfüllt, jedoch sei eine Leistungsgewährung aufgrund des Ausschlusstatbestandes des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI nicht möglich.

Wörtlich heißt es im Widerspruchsbescheid:

Nach der Haftentlassung kann erneut ein Antrag auf Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung gestellt werden.

Der Antragsteller hat dagegen am 28.02.2011 Klage zum SG Fulda (Az.: S 3 R 72/11) erhoben. Am 04.03.2011 hat der Antragsteller weiterhin um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht.

Er ist der Auffassung, dass der Ausschlussgrund des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI bei ihm nicht greife, weil er die begehrte Leistung nicht in der Haft absolvieren wolle, sondern im Anschluss daran.

Der Antragsteller ist der Auffassung, ihm stehe bereits zum jetzigen Zeitpunkt ein Anspruch auf eine Kostenzusage zu. Da er selbst im Hinblick auf fehlendes Vermögen und Einkommen nicht zur Finanzierung eines Drogentherapieplatzes in der Lage sei, müsse die Antragsgegnerin eine entsprechende Kostenzusage erteilen. Nur auf der Basis dieser Kostzusage käme eine Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1 StGB in Betracht, weil der zuständige Richter der Strafvollstreckungskammer einer Strafaussetzung zur Bewährung regelmäßig nur dann zustimmen würde, wenn ein Verurteilter mit Suchtproblemen nahtlos von der Haft in eine Drogentherapie wechseln könne. Dies sei ihm auch bei einer Anhörung von der zuständigen Strafvollstreckungskammer und der Staatsanwaltschaft versichert worden.

Für die Antragsgegnerin stelle die Zusage auch kein finanzielles Risiko dar, weil für den Fall, dass sie die Zusage erteilt und der zuständige Richter der Strafvollstreckungskammer die Aussetzung zur Bewährung ablehnt, keine Kosten entstehen würden.

Schließlich seien keine Gründe für eine Ablehnung, wie etwa ein bereits mehrfacher Therapieabbruch, ersichtlich.

Der Antragsteller beantragt:

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gem. § 9 ff. SGB VI in Form einer Zusage für eine stationäre Drogentherapie zu bewilligen.

Die Antragsgegnerin beantragt:

den Antrag abzulehnen.

Die Antragsgegnerin hält den angegriffenen Bescheid vom 22.10.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2011 für rechtmäßig. Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf die begehrte Kostenzusage. Zwar seien die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, jedoch liege der Ausschlussgrund des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI vor. Ergänzend bezieht sich die Antragsgegnerin auf die Entscheidung des 5. Senats des HessLSG vom 06.01.2011 (L 5 R 486/10 B ER).

Darüber hinaus hat die Antragsgegnerin ausgeführt, dass weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund gegeben seien.

Art. 2 GG“ sei nicht betroffen. Dieser sei einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterstellt. Das Freiheitsrecht des Antragsstellers sei zulässig durch die Straf- und Strafvollstreckungsgerichte eingeschränkt. Es sei nicht ersichtlich, dass die angefochtene Verwaltungsentscheidung den Kernbereich des Grundrechts berühre. Dies könne nur anhand der zur Anwendung kommenden strafrechtlichen Vorschriften geprüft werden, da sie allein eine Freiheitsentziehung rechtfertigen könnten. In die Freiheitsrechte des Antragstellers hätten die Justiz und die Strafvollstreckungsbehörden eingegriffen, nicht jedoch die Antragsgegnerin.

Sofern es der Kernbereich des „Art. 2 GG“ gebiete, dass der Antragsteller vorzeitig aus der Haft entlassen werde, hätten demnach das Vollstreckungsgericht und die Strafvollzugsbehörden hierfür die Voraussetzungen zu schaffen. Ihnen allein obliege es, den Kernbereich des „Art. 2 GG“ zu schützen. Ihnen allein obliege zudem die Entscheidung über die Aussetzung oder Unterbrechung des Strafvollzuges.

Diese Pflicht könne nicht auf die Antragsgegnerin übertragen werden. Denn wäre dies möglich, wäre die Antragsgegnerin der Entscheidungsträger über die Fortdauer einer Vollzugsstrafe. Dies entspräche „definitiv“ nicht dem Willen des Gesetzgebers. Weder der Antragsgegnerin noch dem Sozialgericht obliege die Entscheidung, ob der Antragsteller in Haft bleibe oder nicht. Für diese Entscheidung sei allein die Strafvollzugsbehörde bzw. das Strafvollstreckungsgericht zuständig. Im Übrigen würde diese Verfahrensweise auch gegen Art. 101 GG verstoßen. Denn damit würde dem Antragsteller sein gesetzlicher Richter entzogen.

Schließlich habe der Strafgefangene auch nach § 58 StVollzG einen Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gegenüber den Strafvollzugsbehörden. Sofern nämlich eine Therapie erforderlich sei, sei diese zunächst von dort zu erbringen.

Die Antragsgegnerin verweist weiterhin auf §§ 57 Abs. 3 S. 1, 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB. Danach könne das Vollstreckungsgericht die Weisung erteilen, dass sich der Strafgefangene einer Heilbehandlung, insbesondere einer Entwöhnungsheilbehandlung zu unterziehen hat. Damit habe der Gesetzgeber „seine eigene Möglichkeit geschaffen, mit Sachverhalten wie dem vorliegenden umzugehen“. So könne – im Rahmen der gesetzlichen Zuständigkeiten – die Aussetzung oder Unterbrechung angeordnet und die Rehabilitationsmaßnahme bewilligt und angetreten werden.

An einem Anordnungsgrund fehle es bereits deshalb, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, dass ein weiteres Zuwarten für ihn mit besonderen, wesentlichen Nachteilen verbunden sei. Insbesondere habe er nicht glaubhaft gemacht, dass tatsächlich eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe gewährt würde. Die Entscheidung der Antragsgegnerin über die Gewährung der Leistung zur medizinischen Rehabilitation sei auch keine gesetzliche Voraussetzung für die Entscheidung der „Strafvollstreckungsbehörde.“

Sobald über die Aussetzung des Strafarrestes entschieden sei, könne die Antragsgegnerin über einen neuen Antrag kurzfristig entscheiden. Es bliebe dem Strafvollstreckungsgericht unbenommen, entsprechend §§ 57 Abs. 3 S. 1, 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB eine entsprechende Weisung zu erteilen, dass sich der Antragsteller einer Entwöhnungsbehandlung zu unterziehen habe. Damit sei die Gewährung der Aussetzung der Restfreiheitsstrafe von einem Tätigwerden der Antragsgegnerin völlig frei.

Die Kammer hat eine Stellungnahme beim Leiter der JVA eingeholt. Darin wird u.a. Folgendes ausgeführt:

(…) Bis Anfang 2010 wurden durch die DRV Hessen Kostenzusagen relativ problemlos genehmigt, sofern die sonstigen Rahmenbedingungen für eine Kostenzusage erfüllt waren. Bis zum Urteil des Landessozialgerichts am 01.06.2011, erschien eine Genehmigung zeitweise abhängig von dem zuständigen Sachbearbeiter und dessen individueller Rechtsauslegung. Es war zumindest kein einheitliches Schema zu erkennen, da nahezu identische Anträge unterschiedlich beschieden wurden.

Seit dem Urteil des Landessozialgerichts L 5 R 486/10 B ER vom 06.01.2011, werden die Anträge auf Kostenzusage in Verbindung mit bedingten Entlassungen gem. § 57 StGB, von der „DRV Hessen“, mit dem Verweis auf die entgegenstehende Wirkung des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI durchgehend negativ beschieden.

(…) Probleme tauchten bzw. tauchen ausschließlich in den Fällen auf, die im Zusammenhang mit dem § 57 StGB stehen. Fälle des § 35 BtMG wurden und werden nach wie vor genehmigt, sofern die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung der Kostenzusage erfüllt sind.

(…) Die oben beschriebene Änderung der Verwaltungspraxis war erstmalig Anfang 2010 festzustellen.

Darüber hinaus gibt es durch die unterschiedliche Verwaltungspraxis der DRV Hessen, DRV Bund und LWV, abhängig davon, welcher Kostenträger für die Gefangenen zuständig ist, eine gravierende Ungleichbehandlung der Gefangenen.

(…) Für den Sozialdienst stellen sich letztlich die gleichen Fragestellungen. Auf juristischer Ebene greift eine Therapie im Rahmen einer Entlassung nach § 57 StGB nach dem Ende der Freiheitsstrafe, während im Rahmen des § 35 BtMG die Freiheitsstrafe lediglich unterbrochen wird. Insoweit könnte man die Auffassung vertreten, dass eine Maßnahme nach § 35 BtMG während dem Vollzug wirkt.

Die Antragsgegnerin hat diesbezüglich mitgeteilt, dass die DRV-Bund telefonisch versichert habe, in der täglichen Verwaltungspraxis wie die Antragsgegnerin zu verfahren.

Im Hinblick auf ihre Verwaltungspraxis, für Fälle in denen eine Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB in Betracht kommt, hat sich die Antragsgegnerin nicht dazu geäußert, weshalb man ab 2010 davon abgekommen sei, entsprechende Kostenzusagen zu erteilen. Bis zu der Entscheidung des 5. Senats des HessLSG habe man in besonderen Härtefällen Kostenzusagen erteilt. Von dieser Praxis sei man aber, aufgrund eines weiteren eindeutigen Beschlusses der Arbeitsgruppe Durchführung der Rehabilitation der Rentenversicherungsträger im Dezember 2010 und der Entscheidung des 5. Senats des HessLSG, wieder abgekommen.

Die Fälle des § 35 BtMG seien mit den Fällen des § 57 StGB nicht vergleichbar. Der Wortlaut des § 35 BtMG fordere für eine positive Entscheidung über den Zurückstellungsantrag eine entsprechende Kostenzusage. Insoweit führt die Antragsgegnerin in der Antragserwiderung aus:

Um diese Vorschrift nicht ins Leere laufen zu lassen, spricht die Antragsgegnerin bei konkret anstehenden oder laufenden Verfahren nach § 35 BtMG ausnahmsweise und ungeachtet des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI Bewilligungen für Entwöhnungsbehandlungen aus. Dies gilt jedoch nicht für die in jüngster Zeit auftretenden Anträge aus dem Strafvollzug heraus, bei denen ein Verfahren nach § 57 StGB angestrebt wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Eilverfahrens wie auch des Hauptsacheverfahrens S 3 R 72/11 sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II. Der zulässige Antrag ist auch begründet.

Der Antragsteller hat einen als Anordnungsanspruch geeigneten Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Gewährung der begehrten Zusage für eine stationäre Drogentherapie glaubhaft gemacht.

Gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann, wenn – wie vorliegend – ein Fall eines Aussetzungsantrags nach § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt, das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn und soweit eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die (summarische) Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Die Erfolgsaussichten der Hauptsache können aus verfassungsrechtlichen Gründen abschließend zu prüfen sein. Ist eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, welche insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1977 (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1977 – 2 BvR 42/76 = NJW 1978, S. 693 f.), vor der Einführung von § 86b Abs. 2 SGG, festgestellt, dass Art. 19 Abs. 4 GG es gebieten kann, zur Vermeidung von schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes in Vornahmesachen Rechtsschutz zu gewährleisten.

Der Gesetzgeber hat sich bei der Abfassung des § 86b Abs. 2 SGG für das Merkmal wesentlicher Nachteil als Voraussetzung für einen Anordnungsgrund entschlossen, was als Weniger in Bezug auf die Intensität des Nachteils anzusehen ist. Mithin sichert die aktuell geltende Rechtslage nicht nur den verfassungsrechtlichen Mindeststandard ab, welchen die vorbezeichnete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgelegt hat, sondern geht darüber hinaus (a.A. wohl BayLSG, Beschl. v. 14.06.2005 – L 11 B 218/05 AS ER, juris Rn. 16, welches weiterhin den engeren Maßstab der Entscheidung des BVerfG zu Grunde legt; Düring geht davon aus, dass sich die Entscheidungspraxis zum Anordnungsgrund nach neuem Recht nur in Nuancen von der alten Rechtslage unterscheiden wird, vgl. Düring, in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 26).

Gleichwohl folgt sowohl aus dem Gesetzeswortlaut, wesentlich, als auch aus dem Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes, dass nicht jeder Nachteil zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigt. Einstweiliger Rechtsschutz ist „nur“ für die Fälle zu gewähren, in denen es dem Antragsteller nicht zumutbar ist eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Binder, in: Lüdtke, HK-SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 37).

Das Gericht hat somit zunächst zu prüfen, welche nachteiligen Folgen der Antragsteller zu befürchten hat, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt würde und sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der geltend gemachte Anspruch besteht. Die Gewichtung dieser Folgen ist verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG determiniert. Je schwerer die für den Antragsteller zu erwartenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn und soweit anderenfalls dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, welche durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht beseitigt werden kann (vgl. insoweit die Kommentierung zu § 123 VwGO, Kuhla, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 123 Rn. 128 m.w.N.).

Am Maßstab des Vorstehenden war die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.

Gem. § 13 Abs. 1 SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Voraussetzung für eine Leistungsgewährung ist, dass ein Versicherter die persönlichen (§ 10 SGB VI) und die versicherungsrechtlichen (§ 11 SGB VI) Voraussetzungen erfüllt und kein Ausschlussgrund gem. § 12 SGB VI vorliegt.

Beim Antragsteller sind unstrittig die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Maßnahme der stationären Rehabilitation erfüllt.

Eine Zusage scheitert auch nicht am Ausschlussgrund von § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI, wonach Leistungen zur Teilhabe nicht für Versicherte, die sich im Vollzug einer Freiheitsstrafe befinden, erbracht werden.

Die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes liegen nicht vor. Auch in Kenntnis der vom 5. Senat des HessLSG (Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER, juris) vorgenommenen Interpretation des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI bleibt die Kammer bei ihrer gegenteiligen Auslegung dieser Vorschrift.

Soweit der 5. Senat des HessLSG (Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER, juris Rn. 26) ausführt:

Der Gesetzgeber hat einen eindeutigen Wortlaut in § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI gewählt. Die Möglichkeit einer bedingten Rehabilitationsgewährung bei Wegfall der Ausschlussvoraussetzungen ist vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Er kann auch nicht durch Auslegung des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI im Sinne von Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschaffen werden. Denn die Rentenversicherungsträger und damit in Folge die Sozialgerichte sind nur für die mit der Erwerbsfähigkeit der Versicherten zusammenhängenden Fragen zuständig und nicht, wie es das Sozialgericht praktisch getan hat, für die Aussetzung des Strafvollzuges. Hierzu sind allein Strafvollzugbehörden und Strafvollstreckungsgerichte zuständig.

teilt die erkennende Kammer diese Sichtweise nicht. Wortlaut, Sinn und Zweck wie auch die Gesetzesbegründung sprechen gegen eine Interpretation des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI, wonach die Möglichkeit einer bedingten Rehabilitationsgewährung bei Wegfall der Ausschlussvoraussetzungen durch den Gesetzgeber nicht vorgesehen sei.

Durch den Wortlaut von § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI ist festgelegt:

Leistungen zur Teilhabe werden nicht für Versicherte erbracht, die sich in Untersuchungshaft oder im Vollzug einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befinden oder einstweilig nach § 126a Abs. 1 der Strafprozessordnung untergebracht sind. Dies gilt nicht für Versicherte im erleichterten Strafvollzug bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Mithin dürfen Teilhabeleistungen im Vollzug nicht erbracht werden. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass auch Anträge aus der Haft heraus, welche für einen Zeitpunkt nach der Haft gestellt werden, unzulässig sind.

Auch der Sinn und Zweck von § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI steht der Auslegung des 5. Senats des HessLSG entgegen. Die Vorschrift soll klarstellen, dass die Rehabilitation inhaftierter Personen nicht in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Rentenversicherung fällt (vgl. Jabben, in: Beck’scher Online-Kommentar, Edition 21, Stand 01.03.2011, § 12 SGB VI, Rn. 8). Daraus ist aber nicht herzuleiten, dass § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI einer Antragstellung aus der Haft entgegen steht.

Nichts anderes ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, BR-Drs. 120/89, S. 154). Darin heißt es:

Absatz 1 Nr. 5 schließt Rehabilitationsleistungen für die Zeit der Untersuchungshaft, einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung aus. Die Regelung soll klare Verhältnisse in die Beurteilung der Rechtslage schaffen, wie sie sich nach dem derzeitigen Rechtsstand darstellt und nach der bisher nicht in Kraft getretenen Regelung des § 190 Nr. 14 Strafvollzugsgesetz vom 16.03.1976 (BGBl. I S. 581) ergeben würde.

Die Antragsgegnerin durfte somit den Antrag des Antragstellers nicht unter Hinweis auf § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI ablehnen, weil die Voraussetzungen dieses Ausschlusstatbestandes nicht vorliegen.

Vorliegend hat im Übrigen bereits der Leiter der JVA mit seinem Schreiben an die Antragsgegnerin vom 29.11.2010 klargestellt, dass der Antragsteller beabsichtige, die beantragte stationäre Maßnahme nicht während seiner Haftzeit, sondern im Anschluss daran anzutreten, weshalb § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI nicht greife.

Insoweit geht auch der Hinweis der Antragsgegnerin auf § 58 StVollzG fehl, denn der Antragsteller begehrt gerade eine Teilhabeleistung im Anschluss an die Haft. Im Übrigen ist § 58 StVollzG, seit Inkrafttreten des Hessischen Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung (HessGVBl. I 2010, S. 185 ff.), in Hessen nicht mehr anwendbar.

Aus § 9 Abs. 2 SGB VI ergibt sich, dass die Erbringung von Reha-Leistungen im Ermessen der Antragsgegnerin steht. Grundsätzlich steht dem Versicherten daher kein konkreter Anspruch auf eine bestimmte Reha-Leistung zu. Gem. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB I besteht aber ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung, wenn und soweit die Voraussetzungen für eine Pflicht des Rentenversicherungsträgers zur Ermessensausübung erfüllt sind. Die Ermessensbetätigungspflicht besteht, wenn der Versicherte die sogenannten Eingangsvoraussetzungen erfüllt, welche i.d.R. als „Ob“ der Reha bezeichnet werden und im Unterschied zum „Wie“ der Reha der vollen gerichtlichen Nachprüfung zugänglich sind. Hinsichtlich des „Ob“ der Reha ist der Antragsgegnerin kein Ermessen eingeräumt (vgl. insgesamt zum Vorstehenden Kater, in: Kasseler Kommentar, 66. Erg.-Lief. 2010, § 13 SGB VI, Rn. 4 ff., HessLSG, Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER, juris Rn. 23).

Hiernach erweist sich die Ablehnung der Reha-Leistung als ermessensfehlerhaft, weil die Antragsgegnerin zu Unrecht den Ausschlussgrund des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI angenommen hat und nicht zu einer Ermessensausübung gelangt ist (sogenannter Ermessensausfall).

Mit dieser Feststellung steht dem Antragssteller der begehrte Ausspruch allerdings noch nicht zu. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass dem Antragsteller im Hinblick auf das „Wie“ der Reha grundsätzlich nur ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung zukommt.

Im Regelfall ist es dem Gericht auch im Hinblick auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache verwehrt, seine Entscheidung an die Stelle des Ermessens der Antragsgegnerin zu stellen. Etwas anderes gilt nach der herrschenden Meinung nur dann, wenn die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008, Rn. 322). In den Fällen, in denen keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, soll (lediglich) ein Anspruch auf Verpflichtung der Verwaltung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts bestehen (so Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; wohl auch HessLSG, Beschl. v. 17.05.2005, L 2 R 106/05 ER, soweit ersichtlich nicht veröffentlicht).

Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschl. v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02, juris, Rn. 7, vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 90. Erg.-Lief. 2009, § 80 Rn. 12 der zutreffend auf die hohe Bedeutung von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG bei Vornahmesachen hinweist; ähnlich Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123 Rn. 97 ff.; Wehrhahn, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 1. Aufl. 2008, § 86b Rn. 72 ff.).

Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes würde vorliegend zu schweren und unzumutbaren Nachteilen für den Antragsteller führen. Die Entscheidung der Antragsgegnerin über die angestrebte Drogentherapie durfte vorliegend nicht ohne Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erfolgen. In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland hat die persönliche Freiheit hohen Rang. Staatliche Organe haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Pflicht, schützend und fördernd den Schutz hoher und höchster Rechtsgüter sicherzustellen. Behördliche wie auch gerichtliche Verfahren müssen der im Grundrecht auf persönliche Freiheit enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung Rechnung tragen (vgl. für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, BVerfG, Beschl. v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02, juris, Rn 9 m.w.N.).

Das BVerfG hat gerade bei Entscheidung über die vorzeitige Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB die überragende Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG herausgestellt (vgl. jüngst BVerfG, Beschl. v. 13.09.2010, 2 BvR 449/10, juris).

Dem wird die angegriffene Entscheidung der Antragsgegnerin nicht gerecht. Die Antragsgegnerin hat ausweislich der streitgegenständlichen Bescheide nicht hinreichend berücksichtigt, dass ihre Entscheidung sich für den Antragsteller grundrechtsrelevant auswirken kann. Insbesondere kommt durch die Ablehnung der begehrten Leistung eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung nicht in Betracht.

Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass es – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – nicht darauf ankommt, dass der Kernbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betroffen wird. Es ist nicht ersichtlich, weshalb es im vorliegenden Fall darauf ankommen sollte, dass der vom Schutz der Menschenwürde umfasste – unantastbare – Kernbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betroffen sein soll (vgl. zur Wesens- oder Kerngehaltsgarantie Kokott, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2004, § 22 Rn. 74 ff.).

Unerheblich ist der Hinweis der Antragsgegnerin, dass Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG einem (einfachen) Gesetzesvorbehalt unterstellt ist. Es steht außer Zweifel, dass das Freiheitsgrundrecht des Antragstellers durch die Haftstrafe(n) in verfassungsrechtlich zulässiger Weise begrenzt wird. Indessen zeigt bereits § 57 StGB, dass der Freiheitsbeschränkung Grenzen gesetzt sind. Kann sich eine Entscheidung auf diese Grenzen auswirken, was auf die hier streitgegenständliche Teilhabeleistung zutrifft, so ist der objektive Wertgehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch bei dieser Entscheidung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere im Fall der Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB, auf die bei Vorliegen der dort normierten Voraussetzungen – im Gegensatz zu Abs. 2 der Norm – ein Anspruch besteht.

Bereits in der Lüth-Entscheidung aus dem Jahr 1958 hat das BVerfG herausgestellt, dass die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch Elemente einer objektiven Ordnung sind (BVerfG, Urt. vom 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, juris Rn. 26). Sie enthalten eine objektiv-rechtliche Dimension (vgl. zu deren Ausprägungen Wahl, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2004, § 19 Rn. 5 ff.).

Die Antragsgegnerin kann in diesem Zusammenhang auch nicht mit Erfolg vortragen, dass § 57 Abs. 1 StGB nicht, als konkrete Tatbestandsvoraussetzung für die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung für Abhängige, eine Kostenzusage für eine Therapie vorsieht. Insoweit verkennt die Antragsgegnerin die offene Formulierung von § 57 StGB, welcher in Abs. 1 S. 2 zwar diverse Merkmale nennt, die die Strafvollstreckungskammer bei der Entscheidung über die Reststrafaussetzung zur Bewährung zu beachten hat (vgl. dazu Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 57 Rn. 15 ff.; Hubrach, in: Leipziger Kommentar, 3. Bd., 12. Aufl. 2008, § 57 Rn. 9), Diese sind aber nicht abschließend. Aus dem Wort „namentlich“ ergibt sich, dass es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt (Groß, in: MüKo-StGB, Bd. 2/1, 2006, § 57 Rn. 18). Der Entscheidung der Antragsgegnerin über eine Drogentherapie kommt überragende Bedeutung bei der Entscheidung des Strafvollstreckungsgerichts über die Strafaussetzung zur Bewährung nach zwei Dritteln der Haftzeit zu.

Im Hinblick auf die Empfehlung des Leiters der JVA, wonach eine Strafaussetzung zur Bewährung nur dann empfohlen werden kann, wenn im direkten Anschluss an die Haft eine Therapie angetreten wird, erscheint eine Entscheidung über das Aussetzungsersuchen des Antragstellers in seinem Sinne ohne eine entsprechende Zusage faktisch ausgeschlossen. Zwar bindet die Beurteilung der JVA im Rahmen der Anhörung nach § 454 Abs. 1 S. 1 StPO die Strafvollstreckungskammer bei ihrer Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes nicht. Angesichts der Prüfung der Aussetzungsvoraussetzungen nach § 57 Abs. 1 StGB und der Tatsache, dass der Antragsteller sich nicht im Rahmen von Vollzugslockerungen hat bewähren können, ist jedoch davon auszugehen, dass eine bedingte Entlassung überhaupt nur in Frage kommt, wenn der nahtlose Übergang in eine Therapieeinrichtung gesichert ist. Eine solche Entscheidung vereitelt indessen die Antragsgegnerin mit ihrer Ablehnung von vornherein.

Auch der Antragsteller hat insoweit darauf hingewiesen, dass ihm die zuständige Strafvollstreckungskammer, während einer Anhörung am 12.01.2011, versichert habe, dass eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung nur dann in Betracht kommt, wenn der nahtlose Übergang in eine stationäre Drogentherapie gewährleistet wäre.

Die Kammer hat keine Gründe an dieser Aussage des Antragstellers zu zweifeln. Sie entspricht den Erfahrungen aus weiteren Verfahren, in denen teilweise sogar ein entsprechender Hinweis der Strafvollstreckungskammer zu Protokoll gegeben wurde.

An dieser Stelle bedarf es keiner Erörterung, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung möglicherweise aus anderen Gründen scheitern kann. Diese Entscheidung ist der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorbehalten.

Es ist unzutreffend, wenn die Antragsgegnerin vorträgt, eine positive Entscheidung des Reha-Antrags, sei es durch sie oder das erkennende Gericht, würde einen Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darstellen.

Bereits in der Entscheidung vom 08.11.2010 hat die Kammer ausgeführt, dass die endgültige Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorbehalten ist (vgl. SG Fulda, Beschl. v. 08.11.2010 – S 3 R 250/10 ER, juris Rn. 56).

Dies hat die Kritik der Antragsgegnerin und des 5. Senats des HessLSG, wonach die Kammer ihren Zuständigkeitsbereich in unzulässiger Weise auf den Bereich des Strafvollzuges ausgedehnt habe (vgl. HessLSG, Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER, juris Rn. 26), ausgeblendet.

Einer Verpflichtung der Antragsgegnerin, dem Antragsteller für die begehrte Drogentherapie nach Haftentlassung bereits jetzt eine Zusage zu erteilen, kann auch nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, dass der Gesetzgeber keine Möglichkeit für eine bedingte Rehabilitationsgewährung bei Wegfall der Ausschlussvoraussetzung geschaffen habe (a.A. HessLSG, Beschl. v. 06.01.2011 – L 5 R 486/10 B ER, juris Rn. 26). Die Möglichkeit selbst eine Leistungsbewilligung mit einer entsprechenden Nebenbestimmung – aufschiebende Bedingung nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 SGB X – zu versehen, ist gesetzlich vorgesehen. Damit besteht auch für eine entsprechende Zusage kein rechtliches Hindernis.

Im Übrigen zeigt die Bewilligungspraxis der Antragsgegnerin in der Vergangenheit, dass auch dort entsprechend bedingte Entscheidungen für zulässig erachtet worden sind. Weiterhin bewilligt die Antragsgegnerin aktuell in Fällen des § 35 BtMG stationäre Drogentherapien gegenüber Häftlingen, welche faktisch nur außerhalb der Haft angetreten werden können.

Die Antragsgegnerin räumt im Übrigen selbst ein, dass sie in Fällen des § 35 BtMG „ausnahmsweise und ungeachtet des § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI“ entsprechende Bewilligungen erteilt, „um diese Vorschrift nicht ins Leere laufen zu lassen“.

Die Antragsgegnerin erkennt insoweit den Zusammenhang zwischen Strafvollstreckungsrecht und dem rentenrechtlichen Rehabilitationsrecht zutreffend selbst an. Ihre aktuelle Verwaltungspraxis berücksichtigt hingegen nicht ausreichend die Bedeutung von § 57 Abs 1 StGB. Danach besteht nämlich nach Ablauf von zwei Dritteln der Haft ein entsprechender Anspruch auf Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung, wenn die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB vorliegen (vgl. Fischer, StGB, 57 Aufl. 2010, § 57 Rn. 20). Bei § 35 BtMG handelt es sich indessen (lediglich) um eine Ermessensentscheidung (vgl. zu den Kriterien Kornprobst, in: MüKo-StGB, Bd. 5, 2007, § 35 BtMG Rn. 122 ff.).

Soweit die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Hinweis auf § 56c StGB auf eine bedingte Entscheidung des Vollstreckungsgerichts verweisen will, bleibt dieser Einwand gleichfalls ohne Erfolg. § 56c Abs. 1 i.V.m. Abs 3 Nr. 1 StGB räumt dem Vollstreckungsgericht die Befugnis ein, eine Heilbehandlung nach der Haft im Rahmen einer Weisung anzuordnen. Diese Weisung setzt aber gerade eine vorgehende positive Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB voraus und ist nicht ihrerseits gesetzliche Voraussetzung der Strafaussetzung. Die Durchführung einer Heilbehandlung kann nicht zur Bedingung der Strafaussetzung gemacht werden, weil eine Heilbehandlung nach der Haft notwendig die Haftentlassung voraussetzt.

Selbst wenn man der Argumentation der Antragsgegnerin indes folgen wollte, und eine bedingte Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zuließe, müsste der Antragsteller seinen Teilhabeantrag gleichwohl aus der Haft stellen, was die Antragsgegnerin sonst im Hinblick auf § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI für unzulässig erachtet. Diesen Bruch in der Argumentation der Antragsgegnerin vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. 99 Dem Gericht ist es in Fällen wie dem Vorliegenden nicht nur erlaubt, seine Entscheidung an die Stelle des behördlichen Ermessens zu setzen, es ist vielmehr geboten, dass das Gericht seine Entscheidung an die Stelle des behördlichen Ermessens setzt. Ein von der Antragsgegnerin insoweit angenommenes Verbot ist mit der gesetzlich statuierten richterlichen Gestaltungsbefugnis unvereinbar (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann /Pietzner, VwGO, 90. Erg.-Lief. 2009, § 123 Rn. 160).

In Fällen – wie dem Vorliegenden – in denen nicht anders wirksamer Rechtsschutz erreicht werden kann, muss auch bei bloßen Ermessensansprüchen von Verfassungs wegen eine konkrete Verpflichtung des Hoheitsträgers jedenfalls dann erfolgen, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung zugunsten des Antragstellers ausgehen würde. Dem steht auch eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht entgegen (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2010, § 123 Rn. 14; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 90. Erg.-Lief. 2009, § 123 Rn. 158; allgemein kritisch zum Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache Kuhla, in: Posser/Wolff, VwGO, 1. Aufl. 2008, § 123 Rn. 150 ff.), es weicht an dieser Stelle vielmehr dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin nicht dargetan, weshalb die Gewährung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogentherapie abzulehnen wäre. Die Antragsgegnerin hat selbst ausgeführt, es sei eine Abwägung der Belange der Öffentlichkeit gegen die des Antragstellers vorzunehmen. Es sind aber weder Gründe ersichtlich noch vorgetragen, welche es rechtfertigen könnten, dem Antragsteller die begehrte Zusage zu verwehren.

Nach dem Vorstehenden bestehen auch keinerlei Zweifel an der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund). Eine Zusage für eine Drogentherapie wird die Chancen des Antragstellers auf eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung überhaupt erst schaffen. Mit der rechtswidrigen Ablehnung der beantragten Leistung vereitelt die Antragsgegnerin faktisch die Möglichkeit des Antragstellers auf eine positive Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB. Insoweit berücksichtigt sie nicht hinreichend die verfassungsrechtlichen Vorgaben, welche sich aus der Ausstrahlungswirkung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ergeben. Eine rechtskräftige Entscheidung im Hauptsacheverfahren käme, vor dem Hintergrund das bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung in Betracht kommt, zu spät.

Das Vorstehende beansprucht umso mehr Geltung, als nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 04.08.2010 (5 AR (VS) 23/10) eine Zurückstellung der Strafe zur Durchführung einer Drogentherapie nach § 35 BtMG für den Antragsteller erst dann in Betracht kommt, wenn er die nicht gem. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zurückstellungsfähigen Strafen vollständig verbüßt hat.

Die Kammer lässt es im Ergebnis offen, ob in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die eine Regelungsanordnung mit Verwaltungsermessen betreffen, ein Bescheidungsbeschluss in Betracht zu ziehen ist (dafür Binder, in: Lüdtke, HK-SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 48; darauf Bezug nehmend Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; für die Parallelvorschriften der VwGO unter Hinweis auf § 114 VwGO Happ, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 123 Rn. 66; für das Verfahren nach), oder ob dieser Möglichkeit generell die im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG notwendige Effektivität abzusprechen ist. In Anbetracht des bereits abgelaufenen Zweidrittelzeitpunktes im Januar 2011 war jedenfalls dem Antragsteller ein weiteres Zuwarten nicht mehr zumutbar.

Das Gericht verkennt bei seiner Entscheidung nicht, dass es nicht primärer Zweck des rentenrechtlichen Rehabilitationsrechtes ist, dafür Sorge zu tragen, dass eine vorzeitige Haftentlassung erreicht werden kann. Der vorliegende Fall zeigt aber, dass sich die Bewilligung einer Drogentherapie faktisch auf die Entscheidung über eine vorzeitige Haftentlassung auswirken kann. Die Stellungnahme des Leiters der JVA legt es nahe, dass eine Drogentherapie im unmittelbaren Anschluss an die Haft geradezu zwingende Voraussetzung für eine positive Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung nach zwei Dritteln der Haftstrafe ist. Mithin wirkt sich die Entscheidung für den Antragsteller grundrechtsrelevant aus, was die Antragsgegnerin im Hinblick auf den grundlegenden objektiven Wertgehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu beachten hat.

Gem. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind. Danach war die Antragsgegnerin zu verpflichten, die begehrte Zusage für eine stationäre Drogentherapie zu erteilen. Die Auswahl der konkreten Einrichtung konnte der Antragsgegnerin vorbehalten bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antragsteller war unter Berücksichtigung des Vorstehenden auch Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug zu gewähren.

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